Meer oder Berge? Zur Psychologie des Sehnsuchtsorts

Wohin soll‘s im Urlaub gehen? Dazu hat wirklich jeder eine Meinung! Wieso verteidigen wir unser persönliches Konzept vom Traumurlaub so innig? Sei es die Möwe, die am Meer unser Eis klaut oder der Lämmergeier, der über unseren ausgezogenen Wanderschuhen in den Bergen kreist. Was ist nun besser, Berge oder Meer? Sind vielleicht ganz andere Faktoren wichtig für Entspannung und inneres Wachstum? Und wie macht man Urlaub, wenn man als Selbstständiger in Handwerk und Architektur eigentlich gar keine Zeit dazu hat. Über diese Themen haben wir ein Interview mit Reiseexpertin und Psychologin Christine Miro geführt.

CM: Das ist ganz individuell. Eine Reise ist für jeden Menschen etwas Besonderes. Man verbindet damit positive Emotionen und man erlebt Dinge außerhalb des Alltags. Im Urlaub suchen wir, was an Bedürfnissen sonst zu kurz kommt. Ist der Alltag stressig, kommt es darauf an: Mit welchen Orten verbindet man Entspannung und Erholung? Für die einen ist das eher der Strand oder ein Gewässer, die so genannte blaue Natur. Und für die anderen die grüne Natur. Menschen, die in der Stadt leben, suchen das, was sie besonders mit Natur verbinden. Die Gründe sind vielfältig und man darf nicht vergessen, dass es auch Menschen gibt, die beides mögen, also einmal am Strand Urlaub machen und dann wieder in den Bergen oder auch einen Städtetrip unternehmen. Man kann diese Interessen und Vorlieben auch verbinden, zum Beispiel auf Inseln mit Bergen oder Vulkanen.

Sie haben erwähnt, dass ein Urlaub am Meer einiges bieten kann. Trotzdem wird manchmal behauptet, Strandurlaube seien etwas für Faule. Können Sie uns aus psychologischer Sicht erklären, warum Entspannung auch eine Form der Selbstfürsorge darstellt?

CM: Wer im Alltag viel unternimmt, hat oft das Bedürfnis, erst einmal nichts machen zu müssen. Das ist auch Gesundheitsfürsorge. In diesem Sinne macht man nicht nichts, sondern man tut etwas für sich, den eigenen Körper und auch für die Psyche. Man schaltet ab vom Alltag, in dem man sonst die ganze Zeit aktiviert wird. Das tut gut. Deswegen ist es wichtig, dass man überhaupt Urlaub macht und sich nicht beispielsweise Überstunden auszahlen lässt. Urlaub kann als Ausgleich zur Arbeit das eigene Leben wieder in den Fokus rücken.

Wohin sollte man reisen, wenn man gezielt etwas für sich tun und seinen Horizont erweitern will? Wenn man etwas tun will, was einen auch im Leben oder seelisch voranbringt?

CM: Man muss gar nicht weit reisen. Eigentlich geht es ja darum, etwas zu machen, was nicht in der eigenen Komfortzone liegt. Das kann schon an der nächsten Straße oder in der nächsten Stadt sein. Man kann auch in der Region aus seiner eigenen Komfortzone rauskommen. Natürlich fällt es uns leichter, wenn wir wegfahren. Keiner kennt uns am Urlaubsort, da ist es einfacher, aus sich herauszukommen, etwas auszuprobieren, zum Beispiel eine neue Sportart. Viele Sportarten werden von Hotels aus angeboten. Das kann man in Anspruch nehmen. Oder einfach mit Menschen kommunizieren, mit Händen und Füßen oder mit dem Handy. Im Idealfall versucht man auch ohne Vorausplanung Neues zu erleben. Denn so angenehm Sicherheit für uns ist, sie ist das Gegenteil von Freiheit und Abenteuer. Erst neue Erfahrungen sorgen dafür, dass neue Verknüpfungen im Gehirn aufgebaut werden. Das Sammeln von Erfahrungen sorgt im Urlaub dafür, dass man positive Emotionen spürt. Glückshormone werden ausgeschüttet und man fühlt man sich entspannt und zufrieden. Macht man es richtig und befriedigt seine Bedürfnisse nach Ausgleich, gewinnt man psychisch als auch physisch.

CM: Es ist nicht falsch, das zu tun, was man liebt und wodurch man die meisten Glückshormone bekommt. Wenn man damit aus dem Alltag herauskommt, ist es richtig, das zu machen. Kommt es aber zu Überforderung durch die Hobbys oder den Sport und kränkelt man bereits vorher, sollte man die eigene Gesundheit in den Vordergrund stellen. Für Extremsport muss man fit sein, und daher sollte man natürlich schauen, wie man aufgestellt ist: Was braucht die Person im Moment, was sind die Vorlieben, was sind die Interessen? Und wie ist es mit der Gesundheit aktuell bestellt?

Beraten Sie Reisewillige, die ein Abenteuer erleben möchten, sich aber nicht trauen? Die Lampenfieber vor der Freiheit oder dem eigenen Vermögen haben, sich etwas Neues zu erschließen?

CM: Ja, Ängste spielen eine ganz große Rolle. Vor längeren Aufenthalten im Ausland steht oft Unsicherheit, manchmal fühlen Menschen sich auch durch ihr Umfeld zurückgehalten. Dann kommen Fragen auf: Soll ich trotzdem reisen? Was mache ich, wenn ich Angst habe oder scheitere? Oder wenn die Beziehung zum Partner leiden könnte? In diesem Zwiespalt wenden sich Menschen an mich und wir versuchen Wege zu finden, mit den Konsequenzen einer solchen Entscheidung zurechtzukommen. Manchmal trifft das Befürchtete auch gar nicht ein und der Partner bleibt oder kommt sogar mit oder besucht die Person im Ausland.

Unsere Leser sind oft selbstständig, zum Beispiel im Handwerk oder in der Architektur. Viele Berufsgruppen sind häufig sehr eingespannt, oft auch projektweise oder saisonal bedingt. Haben Sie einen Ratschlag zur Urlaubsplanung für Menschen, die beruflich unter einem strengen Zeitregime agieren müssen? Was können sie tun, um viel Erholung und Abenteuer aus diesen begrenzten Phasen zu holen?

CM: Ausgleich ist sehr wichtig für die Gesundheit. Und wer sein Unternehmen nach vorne bringen will, muss auch fit und gesund dafür sein und die Leistungsfähigkeit dafür erhalten. Und wenn man sich keine Erholung gönnt, macht irgendwann der Körper oder die Psyche oder wenn man Pech hat, sogar beides schlapp. Dann wird man krank und je nachdem, wie lange es dauert, kann man das Unternehmen nicht leistungsfähig führen. An dieser Stelle ist es wichtig, vorausschauend einen nötigen Ausgleich zu finden. Verlangt der Arbeitsalltag Konzentration am Schreibtisch, braucht man eher Action. Bei stressiger Projektarbeit kann Entspannung einen Ausgleich bieten. Das muss nicht am Strand stattfinden, wo man mit geschlossenen Augen dem Meer lauscht, das ginge auch zu Hause mit einer CD. Es geht letztlich darum, Zeit für sich zu nutzen und an einem schönen Ort neue Reize auf sich wirken zu lassen und Abstand vom Alltag zu gewinnen, psychisch und physisch, um dann wieder leistungsfähig für das Unternehmen da zu sein. Das ist eine aktive Entscheidung. Jeder muss für sich entscheiden, sich nicht kaputt zu machen.

CM: Ja, es gibt Menschen, die überhaupt nicht gerne reisen oder noch nie wirklich weg waren. Oder auch schon vielleicht früher mal, aber jetzt ging es lange nicht mehr. Dann kommt es darauf an, was das Individuum braucht und ob es bereit ist, für die Erfüllung dieser Bedürfnisse auch wirklich eine Reise zu machen. Reisen bedeutet auch Stress. Reisen kann bedeuten, viel Zeit in öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbringen. Und manchmal funktioniert es irgendwie nicht. Man muss warten, steht im Stau, es gibt Streik oder was auch immer. Es gibt immer kleine Herausforderungen auf dem Weg. Wer wenig Zeit hat, will unter Umständen keine Zeit verplempern, um erst mal an einen Urlaubsort zu kommen.

Und das muss auch nicht sein. Wenn ein Selbstständiger nicht weit weg reisen kann oder will, kann er auch zu Hause Zeit abseits des Berufs gestalten oder schon am nächsten Ort oder in zwei, drei Stunden Entfernung Natur und Erholung finden oder Freunde besuchen, die man schon lange nicht mehr gesehen hat. Es geht darum, dass man einfach etwas für sich tut, Handy oder Laptop weglegt und Zeit für sich verbringt. Es geht darum, achtsam im Hier und Jetzt Freizeit zu genießen, um wieder Kraft zu schöpfen. Reisen muss man nicht. Man kann es tun, wenn man das möchte und wenn man das was Positives damit verbindet.

Gibt es manchmal Konflikte in Familien, wenn jemand sich gegen das Verreisen sperrt und beruflich nur schwer abschalten kann? Und dann gibt es vielleicht auch Kinder, die andere Bedürfnisse an Urlaubsorte haben als die Erwachsenen? Wie kann man damit umgehen?

CM: Konflikte in der Familie muss man einmal lösen, durch Kommunikation darüber, was jeder im Moment braucht. Wie stellen sich alle einen Urlaub vor und wie kann man das vereinen? Dabei kann es Stress geben, das ist normal. Wichtig ist, dass man Kompromisse eingeht, mit denen alle zufrieden sein können. Wenn etwas in der aktuellen Lebenssituation gar nicht hinkommt, kann man besondere Wünsche auch zurückstellen und planen, das betreffende Abenteuer in einigen Jahren zu erleben. Das bedeutet zum Beispiel, erst einmal auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen und das Beste daraus zu machen. Man kann dann Urlaube machen, in denen Kinder ein Animationsprogramm erleben. Oder man reist mit befreundeten Familien, damit jeder mal auf die Kinder aufpasst.

Werden Selbstständige von der Familie angehalten, auch mal in den Urlaub zu fahren, steckt oft Sorge der Familie dahinter. Ein Problem kann dann sein, dass die Person zwar in den Urlaub fährt, aber nicht abschaltet und selbst auf der anderen Seite der Erde den Laptop aufmacht, E-Mails checkt, telefoniert und arbeitet. Das bietet keine Erholung, da ist man ehrlicher zu sich selbst, wenn man zuhause bleibt. Ausgleich ist nicht der reine Ortswechsel. Der trägt dazu bei, dass man besser und schneller abschalten kann. Aber wenn Menschen die Verantwortung nicht abgeben können, müssen sie an sich selbst arbeiten, die Verantwortung auch mal abzulegen und für sich zu sorgen.

Dann tritt Kontrolle an die Stelle des Vertrauens und die ist mit Anwesenheit verknüpft. Wer das eigene Unternehmen als sein Baby sieht, kann die Kontrolle nur schwer abgeben, weil es ohne einen nicht läuft. Das ist ein sehr starker Leitgedanke, der verhindert, dass man sich entspannt, ob im Urlaub oder auch nur außerhalb der Geschäftszeiten.

Die Gespräche unterstützen dabei, sich das zu erschließen, sich zu lockern, um im Betrieb auch Vorbildfunktion zu zeigen und Freizeit als Regenerationsphase zu begreifen. Man hat als Unternehmer auch eine Vorbildfunktion und investiert durch Selbstfürsorge in den eigenen Betrieb. Wenn die Mitarbeitenden Freizeit und Urlaub genießen dürfen, bleibt ihre Leistungsfähigkeit erhalten. Dafür ist Urlaub im Arbeitsrecht ja gedacht. Wenn der Chef sich das traut, profitieren alle davon. Denn er signalisiert: Ich kann mich entspannen, ihr könnt es also auch und dann sind wir im Alltag leistungsfähig. Das ist auf jeden Fall besser als Stress und Überforderung ohne Ausgleich oder ein Chef, der sich nach kurzem Ausgleich wieder auf Null setzt und die Firma vor alles andere stellt. Daher gibt es individuelle Herangehensweisen, mit dem man dann die Selbständigen dazu bringt, ein bisschen mehr für sich zu sorgen. Im psychologischen Gespräch zeigt sich, welche Glaubenssätze im Kopf es nicht erlauben, die Dinge anders anzugehen.

CM: Man sollte so wenig Erwartungen wie möglich an die Situation am Urlaubsort haben. Man kann sich im Vorfeld informieren, Zufriedenheiten abfragen oder nach Standards buchen, aber man kann nur hoffen, dass dann alles so ist, dass man zufrieden ist. Dabei haben andere Reisende womöglich ganz andere Bedürfnisse und haben deswegen positiv vom Reiseziel gesprochen. Wenn man so an den Urlaub herangeht, kann man schnell unzufrieden sein, weil das Erlebnis vom Erhofften zu stark abweicht.

Eigentlich macht einen Urlaub aber aus, Zeit für sich zu haben, egal an welchem Ort man das gerade findet und dass man diese Zeit, die man hat, für sich nutzt. Wenn man an einem vermeintlich nicht so optimalen Ort gelandet ist, und das passiert beim Reisen manchmal, geht es darum, das Beste daraus zu machen. Humor ist dann sehr hilfreich, frei nach dem Motto „Shit happens“. Man sollte dann nicht unbedingt alles abbrechen oder sich ärgern, sondern sich sagen: Ich habe mich für einen Urlaub entschieden, ein Hotel gebucht, das habe ich verantwortlich gemacht. Und dann kann man daraus für ein nächstes Mal lernen und sich am Urlaubsort trotzdem neue positive Erlebnisse erschließen.